Gerade habe ich das Buch “Die Priviligierten” des Autoren Thomas von Steinaecker beendet. Und das Buch hat mich gepackt wie zuletzt selten ein Buch getan hat. Der Artikel enthält definitiv Spoiler zu dem Roman, daher gilt ab hier: Weiterlesen auf eigene Verantwortung.
Der Anfang
Bastian Klecka lebt Mitte der 2040er Jahre in der norwegischen Wildnis, wohin er vor den klimatischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland geflohen ist. In Norwegen ist er Selbstversorger, kümmert sich um seine Rüben und Hühner, während er die umherziehenden Wölfe auf Distanz zu halten versucht. Seit Jahren hatte er keinen Kontakt mehr zu anderen Menschen und inmitten der abgeschiedenen Einöde beschließt er, sein bisheriges Leben aufzuschreiben, auch um sich selbst beschäftigt zu halten und nicht durchzudrehen.
Bastians Eltern sterben früh und so wächst er mit seinem Großvater auf, der als Professor für Germanistik arbeitet und glühender Verfechter dessen ist, was man landläufig als Hochkultur bezeichnen würde. Er ist Thomas Mann-Experte und zu Hause führt er seinen Enkel in die Welt der klassischen Musik ein. Bastian lernt auf dem Gymnasium seine beiden besten Freunde kennen, Ilie, den Sohn rumänischer Einwanderer, der ständig aus Filmen und Serien zitiert sowie Madita, die Tochter einer alleinerziehenden Mutter. Madita ist das, was man in den 80ern und 90er als “Öko” tituliert hat: umweltbewusst, engagiert für die so genannte Dritte Welt und klamottentechnisch eher uncool. Beide begleiten Bastian sein gesamtes Leben lang, auch wenn die Freundschaften zwischendurch immer wieder stark belastet werden.
Hätte, Hätte, Fahrradkette
Nach der Schule studiert Bastian auf Lehramt, bricht das Studium aber irgendwann ab und geht dann zum Fernsehen, wo er dann an der Art von Unterhaltung mitarbeitet, die sein Großvater als “Verdummung” verachtet hat. Er lernt Brigitte kennen, sie ziehen zusammen und sie bekommen ein Kind. Sie leben in mitten in München und sind irgendwie linksliberal, d.h. sie sind an Umweltthemen interessiert, sehen sich politisch und moralisch auf der richtigen Seite, aber immer dann, wenn sie nach ihren Überzeugungen handeln müssten, wählen sie die vermeintlich sichere Variante. In den Urlaub geht es trotz schlechtem Gewissen mit dem Flieger und das Kind wird auf die Schule mit dem niedrigeren Migrantenanteil geschickt, auch wenn sie weiter entfernt ist und man weiß, dass man damit die zunehmende Trennung von priviligierten und weniger priviligierten Kindern weiter befeuert. Aber man will ja seinem Kind nicht durch die Wahl der Schule die Zukunft verbauen.
Bastian übernimmt beim Fernsehen eine wichtige Position, wodurch er wenig Zeit für Frau und Kind hat und er zudem auch seine berufstätige Frau überfordert. Zwischendrin tritt er für ein halbes Jahr kürzer, er nimmt sich Zeit für seinen Sohn, teilt sich die Care-Arbeit mit der Frau und es ist eine sehr schöne und auch gewinnbringende Zeit für alle. Doch dann bekommt er wieder ein wichtiges Projekt übertragen und obwohl im bewusst ist, was das für seine Frau bedeutet und wie sehr an ihren Kräften zehrt, willigt er ein. Von Steinaecker verzichtet hierbei auf den großen moralischen Zeigefinger und dennoch gelingt es ihm, die große Diskrepanz zwischen Anspruch und Handlung aufzuzeigen. Man möchte gerne “richtig” handeln und leben, am Ende bleibt man auf der vermeintlich sicheren Seite und verzichtet auf allzu große Änderungen in seinem Tun.
Die Bubble platzt
Während Sohn Samy heranwächst zieht man aus der City raus in eine Neubausiedlung in den Außenbezirken. Beide Eltern sind beruflich stark eingespannt und Samy ist viel auf sich alleine gestellt, was die Eltern zwar mit schlechtem Gewissen beobachten, aber sich selbst mit der ach so großen Selbständigkeit des Jungen schönreden. Die Handlung der 2020er und 2030er wird dabei mit den zunehmenden gesellschaftlichen und klimatischen Veränderungen verwoben. Dabei verzichtet von Steinaecker darauf, die Entwicklungen allzu sehr in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen, sondern sie fließen erst dann ein, wenn der Protagonist mit dem Leben außerhalb seiner Siedlungs-Bubble konfrontiert werden. Das Wetter wird immer wärmer, die soziale Ungleichheit sowie die dazugehörigen Spannungen nehmen immer weiter zu. Die Siedlung wird im Laufe der Zeit eingezäunt, mit Sicherheitsposten und Wachdrohnen bestückt, um die Bewohner vor dem abzuschotten, was sich außerhalb des Zauns abspielt. Bastian bekommt von alledem kaum noch etwas mit, da er irgendwann aufgehört hat, die Nachrichten zu verfolgen und sich so ein Bild über die Lage zu machen. Und der Autor verzichtet auf allzu detaillierte Darstellungen dessen, was sich an dystopischen Dingen im Hintergrund entwickelt. Die Berührungspunkte sind nur von kurzer Dauer, wenn die Umstände ein Verlassen des eigenen priviligierten Kokons erzwingen.
Sohn Samy studiert nach der Schule Medizin, bricht das Studium aber kurz vor dem Abschluss ab, um für eine Organisation zu arbeiten, die versucht, die medizinische Versorgung in sozialen Brennpunkten aufrecht zu erhalten, aus denen sich der Staat schon lange zurückgezogen hat. Für seine Eltern ist dies ein Schock und es kommt zum Bruch zwischen Eltern und Kind. In seinem Rigorismus, sich für eine gerechte Sache auch aktiv einzusetzen, ist Samy ein starker Kontrapunkt zu seinen Eltern, deren Leben vor allem im Konjunktiv stattfand. Man hätte sich für Mitmenschen einsetzen können, man hätte sich für eine gerechtere Aufteilung der Care-Arbeit einsetzen können oder sich mehr für die Gesellschaft an sich einsetzen können, aber man hat es nicht getan, weil es einfach war, einfach weiterzumachen.
Das Ende und Fazit
Zum Ende des Buchs stirbt Brigitte und Bastian zieht sich in KI-generierte VR-Welten zurück, die auf der Basis von echtem Filmmaterial erstellt wurden und in denen Brigitte noch am Leben ist. Ein Bekannter kann Bastian nach einiger Zeit aus diesem Zustand der Realitätsflucht zurückholen und ihm dabei helfen, den Tod seiner Frau zu verarbeiten. Während seiner Zeit auf dem Hof des Bekannten fasst Bastian den Entschluss, Deutschland den Rücken zu kehren und sich in der norwegischen Wildnis ein Leben als Einsiedler aufzubauen. Letztlich kommt es noch zu einem angedeuteten kleinen Happy End, ohne dass ich dieses hier nun spoilern möchte.
Das Buch hat mich wirklich in seinen Bann gezogen und so habe ich es in wenigen Tagen verschlungen. Offensichtlich war es auch der Auslöser, die Funkstille in diesem Blog zu unterbrechen. 😉 Vielleicht liegt es einfach daran, dass ich das Gefühl hatte, das Buch würde sowohl mich als auch viele um mich herum spiegeln und ein Stück weit einfangen, was auch gerade jetzt im Angesicht multipler Krisen passiert (Klima, Kriege und die gesellschaftliche Stimmung in DE). Darüber hinaus ist der Protagonist Bastian etwa so alt wie ich, Ende der 70er geboren, in den 80ern und 90ern aufgewachsen. Dazu finde ich es auch sehr geschickt, dass die dystopischen Elemente nie im Vordergrund stehen und der Leser stattdessen vor allem Bastian begleitet. Die Ereignisse “draußen” kommen immer nur beim direkten Kontakt Bastians mit der Außenwelt (bspw. Besuch beim erwachsenen Sohn in der Klinik für benachteiligte Menschen oder Besuche im Supermarkt, weil Lieferdrohnen ausfallen und die Siedlung nicht mehr beliefern). It hits close to home, wie man im Englischen so schön sagt.